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Atem - ein unterschätztes Instrument?

DI, 20.09.2022

Der Mensch kann wochenlang ohne Nahrung auskommen, ein paar Tage ohne Wasser aber nur wenige Minuten ohne Atem. Der Atem ist mit seinem rhythmischen Ein- und Ausströmen ein fließender Kreislauf des Lebens. Eine unserer natürlichsten und ursprünglichsten Tätigkeiten, der wir kaum bis gar keine Beachtung im Alltag schenken.

Beobachten wir hin und wieder unseren Atem bewusst, dann können wir zur Erkenntnis kommen, dass er sich im Laufe eines Tages sehr oft verändert. Er reagiert auf jeden Gedanken, jedes Gefühl, auf eine Berührung und natürlich auf jede unserer Bewegungen. So gesehen ist unser Atem der Spiegel unserer emotionalen, physischen und psychischen Verfassung. Verändern wir seinen Fluß absichtlich und zielgerichtet, so können wir umgekehrt auch unsere Verfassung beeinflussen.

Wir atmen durchschnittlich etwa fünfzehntausendmal pro Tag und schöpfen mit jedem einzelnen Atemzug neue Lebenskraft. Mit jeder Einatmung versorgen wir den Körper mit Sauerstoff und mit jeder Ausatmung lassen wir Stoffwechselabfall in Form von Kohlendioxid (Säure) los.  Ist unsere Atmung über längere Zeiträume hinweg flach und beschleunigt, wird unser Körper nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt und von Kohlendioxid entlastet. So kommt es zu einer Erlahmung des natürlichen und notwendigen Stoffwechsels, in weiterer Folge zu einer Übersäuerung im Körper und daraus folgend zur Schwächung des Immunsystems.

Sind wir verspannt, haben wir Konflikte oder sind „gestresst“, so wird unser Atem flacher und wir begrenzen den Atem, das bedeutet wir müssen öfter atmen und dadurch wird der natürliche Rhythmus schneller. Warum ist das so? Stresssituationen heute sind nicht mehr dieselben wie jene unserer Vorfahren. Der maßgebliche Punkt ist unsere Wahrnehmung zu einer Situation - beurteilen wir etwas als Gefahr (das kann beispielsweise eine Befürchtung sein, dass wir von anderen abgelehnt werden; eine solche Ablehnung hätte bei unseren Vorfahren bedeutet, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden und damit nicht überlebensfähig zu sein) so beschleunigen sich unser Puls und unsere Atmung, der Körper spannt sich an und versetzt sich in die Möglichkeit zu kämpfen, zu fliehen oder sich tot zu stellen.

Grundsätzlich also ein überlebensnotwendiger, wichtiger Mechanismus. Nach so einer Stressreaktion braucht der gesamte Körper Zeit um sich zu erholen und das Erlebnis zu verarbeiten (körperlich und psychisch). Wieviel anhaltenden Stress haben Sie in unserer Zeit oder in Ihrer persönlichen Situation? Ein kleiner Hinweis genau hier: sehr oft verursachen unsere Gedanken und Urteile über eine Situation, einen Menschen oder einen Umstand diese Stressreaktion - auch hier wäre ganz viel Raum für Ent-Spannung.

Zurück zum Atem - beobachten Sie genau in diesem Moment Ihre Atmung, vergleichen Sie dazu wie sie heute morgen war - haben Sie eine Erinnerung? War sie vielleicht beschleunigt, weil Sie Zeitdruck hatten? Wie ist sie jetzt gerade? Wie wird sie voraussichtlich am Abend sein? Können Sie am Abend loslassen von Hektik und Druck?

Jetzt, wo wir uns klar gemacht haben, dass der Atem die Brücke zwischen Körper und Geist ist, können wir ihm die Aufmerksamkeit schenken, die er verdient. Wir werden mit der unmittelbaren Erfahrung belohnt, dass wir selbst Einfluss darauf nehmen können, wie wir uns fühlen. Wir kennen das Prinzip aus manchen Redewendungen, die wir nutzen: „Da bleibt mir die Luft weg!“, oder auch: „Hol zuerst einmal tief Luft, damit du dich beruhigst!“.

Ein voller und tiefer Atemzug würde eigentlich nicht nur einen Teil der Lungen füllen, sondern den gesamten Brustraum vom Zwerchfell bis in die Schulterspitzen. Wir sind nicht gewohnt, so zu atmen, aber die Wirkung können Sie jederzeit und in jeder Situation testen. Sie brauchen nichts extra mitzunehmen oder in einer überfordernden Situation zuerst aus einem anderen Raum etwas holen (obwohl es eine Lösung sein kann, den Raum kurz zu verlassen, um zu einer Situation ein wenig Abstand zu bekommen).

Stattdessen können Sie kurz an Ihren Atem mit seinen Möglichkeiten denken und beginnen, tief und langsam ein- und auszuatmen. Eine Möglichkeit ist es auch, sich vorzustellen, dass der Atem eine beruhigende Farbe hat, wie beispielsweise blau oder grün. Sie werden feststellen, dass die Wirkung unmittelbar eintritt. Von Nervosität, Ängsten über Ärger bis zu kreisenden Gedanken oder Sorgen verändert tiefe Atmung Ihr Befinden sofort. Sie können einen so tiefgreifenden Zusammenhang nicht glauben? Probieren Sie es jederzeit aus, denn Sie sollen sich sogar gerade dabei nicht auf mein Wissen, meine Erfahrungen und Worte verlassen.

Besonders freuen würde es mich, wenn Sie auch Ihrem Kind das tiefe, langsame Atmen als Möglichkeit zur Beruhigung mitgeben. Auch Kinder brauchen mehr denn je Werkzeuge um Ruhe zu finden. Sie haben meist einen sehr natürlichen, spielerischen Zugang und setzen sehr schnell um. Der nächste Atemzug kommt bestimmt - lassen Sie ihn tief, ruhig und kräftigend sein!

 

Verfasst von Mag. Petra Barbara Dreer (Dipl. Mentaltrainerin, Kinderyogalehrerin, Meditationsleiterin, Kinesiologin, Lebens-, Sozial- und psychologische Beraterin i.A., Juristin)

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